UNSERE TAGE ZU ZÄHLEN, LEHRE UNS!
Gedanken zu Psalm 90
Am Beginn dieser Woche haben wir Allerseelen gefeiert, überschattet vom brutalen Terroranschlag im Zentrum unserer Bundeshauptstadt.
Wenn ich heute mit einigen Versen aus dem Psalm 90 die „Novemberbriefe“ eröffne, dann deshalb, weil dieses alttestamentliche Gebet die Stimmung der Zeit in dichterischer Form einzufassen vermag.
„Zum Staub zurückkehren lässt du den Menschen … denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist.“
Wir kennen den Spruch aus der Aschermittwoch-Liturgie. Er durchzieht das ganze Alte Testament, das noch keine explizite Auferstehungshoffnung kannte. So konnte man nur ganz realistisch feststellen, dass wir zum Staub zurückkehren, denn – und das war wohl mit gemeint – von dort sind wir genommen. Das ist im Schöpfungsbericht ausdrücklich so benannt und damit eine Wirklichkeit angesprochen, die von der Naturwissenschaft eindeutig belegt ist. Wir gehören zur Materie und sind Materie. Von Materie bist du genommen, zur Materie kehrst du zurück.
Während die Naturwissenschaft die Ursache dieser Wahrheit offen lässt, weiß der Psalmist, wohin er sie zu verlegen hat. „Du lässt den Menschen zu Staub zurückkehren“ redet er Gott an, per Du, ohne Anklage und ohne eine Rechtfertigung zu verlangen. Es ist eben so, das ist unsere menschliche Natur, in die wir verwoben sind und ohne die es uns nicht gäbe.
Es ist vom äußeren Anschein her nicht sehr erfreulich: Wie ein Gras, das am Morgen aufwächst und am Abend wieder verwelkt, weil es zu wenig Wasser hat. Eins, zwei, drei im Sauseschritt, eilt die Zeit, wir eilen mit. Ja, schnell geht es vorbei, wir fliegen dahin. Unser Zeitmaß ist nicht Gottes Zeitmaß. Bei ihm sind tausend Jahre wie der Tag, der gestern vergangen ist.
„Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz.
Als Kinder haben wir vor Nikolaus oder vor Weihnachten jeden Tag einzeln gezählt und konnten es nicht erwarten, dass es endlich so weit wäre. Jeder Tag bekam so ein gesondertes Gewicht, ihn abgehakt zu haben bedeutete, näher am Ziel zu sein. Es war nicht ein vergangener, abgelaufener Tag, sondern ein gewonnener. So hat jeder Tag eine eigene Qualität bekommen. Auf der Koglbauerkapelle in Ulrichsberg steht der Spruch: O Mensch, du gehst dahin und nimmst es nicht in acht, dass jeder Augenblick dein Leben kürzer macht. Eigentlich müsste es umgekehrt heißen: Dass jeder Augenblick dein Leben länger macht. So wird jeder Tag zum Geschenk, eine Gabe und zugleich eine Aufgabe.
Ein weises Herz gewinnen, heißt, sich durch das Wissen um die Vergänglichkeit des Lebens neue Einsichten zu verschaffen, jeden Tag als wertvollen Baustein der wachsenden „Kathedrale“ Mensch zu verstehen, jeden Tag als Herausforderung und Auftrag sehen. Der alttestamentliche Beter bittet Gott um diese Fähigkeit: Seine Tage zu zählen.
Diese Bitte kann er deshalb locker aussprechen, weil er aus einer ganz sicheren Hoffnung lebt: „Du warst uns Wohnung von Geschlecht zu Geschlecht“. Diese Spannung auszuhalten macht den alttestamentlichen Glauben – in dem ja auch Jesus von Nazareth gelebt hat - so faszinierend. Er lässt uns zum Staub zurückkehren - und er ist uns Wohnung von Geschlecht zu Geschlecht. Dieses Gottesbild hat noch nicht einen Gott im Blick, der mittels logischer Schlüsse bewiesen werden muss. Er ist einfach „DA“.
Und dieses „Da-Sein“ einer alles umfassenden Kraft, die wir noch dazu mit „Du“ anreden können, beflügelt, sie ermuntert zur Weltgestaltung und Selbstgestaltung. So endet der Psalm dann auch: „Lass das Werk unserer Hände gedeihen, ja, lass gedeihen das Werk unserer Hände.“
©ernesttheußl